Clarissa Haller, Leiterin der Unternehmenskommunikation bei Siemens, über personalisierte News-Feeds, den Hashtag #learnfromit und Corporate Influencer.
Hallo Clarissa, „365.000 Corporate Influencer sollt ihr sein“ – so könnte das neue Motto von Siemens lauten, oder? Was hat es mit den Mitarbeiter-Influencern bei Siemens auf sich und wer macht genau mit?
Die Idee dahinter ist relativ simpel, nämlich Mitarbeiter zu Botschaftern machen. Unsere MitarbeiterInnen weltweit brennen für ihre Themen und arbeiten an spannenden Zukunftsprojekten. Warum dieses Potenzial ungenutzt lassen? Unsere Strategie sieht vor, dass wir alle KollegInnen dazu befähigen, auf Social Media aktiv zu werden, und im besten Fall werden sie so auch Influencer für Siemens. Das heißt, dass die Mitarbeiter sich auch zu Siemens-Themen äußern können, was früher nur die Pressestelle durfte.
Damit keine „unerwünschten Nachrichtenzyklen“ ausgelöst werden, untersagte Microsoft in diesem Jahr (2019) seinen 130.000 Mitarbeitern, Aprilscherze im Zusammenhang mit dem Unternehmen oder seinen Produkten zu veröffentlichen. Gibt es bei Siemens Kommunikationsregeln für Social Media oder spezielle Schulungen?
Grundsätzlich halte ich wenig von solchen Verordnungen oder von Kontrolle – denn Social Media ist vor allem das Aufgeben von Kontrolle. Wir vertrauen auf die Kompetenz der Siemens-Kollegen. Natürlich bieten wir Schulungen an – das beginnt mit einfachen technischen Handreichungen, wie ein bestimmtes Tool oder eine Plattform zu benutzen ist, und geht bis hin zu der Frage, wie beispielsweise ein gelungener Tweet aussieht. Aber jeder muss selbst ein Gespür dafür bekommen, was passend ist und was nicht, sonst ist es auch nicht authentisch. Einen Rahmen setzen hier außerdem unsere generellen „Business Conduct Guidelines“. Sie beschreiben, zu welchen Werten sich Siemens bekennt und wie wir miteinander umgehen wollen.
Wenn etwas „Brisantes“ in Social Media veröffentlicht wurde, wie geht ihr damit um? Kommentiert oder löscht ihr diese Beiträge?
Löschen ist keine Lösung. Es werden immer wieder Dinge veröffentlicht, die uns vielleicht nicht gefallen, aber Kritik muss man aushalten. Oft reicht es schon, sachlich auf Vorwürfe oder Kritikpunkte einzugehen und mit möglichst konkreten Fakten und Zahlen die eigene Argumentation zu unterstützen. Damit einher geht übrigens eine starke Veränderung des Profils von Kommunikations-Mitarbeitern: Statt vor allem Inhalte zu entwickeln und zu platzieren wird es immer mehr zur Aufgabe, Diskussionen zu moderieren, zu analysieren und zu orchestrieren.
Vor ein paar Monaten lief das Pilotprojekt „Coffee Mug“ an, ein personalisierter News-Feed im Intranet auf Basis von KI. Wie waren die ersten Erfahrungen mit KI? Lernt sie, was relevant ist und was nicht?
Ja, das macht sie! „Coffee Mug“ ist ein ganz gutes Beispiel dafür, wie KI bedarfsorientiert und zielgerichtet eingesetzt werden kann. Und wie sie uns bei unseren Zielen unterstützt. Im Wesentlichen geht es bei dem Projekt darum, in der internen Kommunikation von einer sender- zur empfängerorientierten Kommunikation zu gelangen. Mitarbeiter bestimmen selbst, zu welchen Themen und in welchem Umfang sie News erhalten wollen. KI hilft uns dabei, das so gut wie möglich umzusetzen, auf jeden Nutzer individuell zugeschnitten. Dabei lernt sie kontinuierlich dazu: Je mehr Feedback vom Nutzer kommt und je häufiger er „Coffee Mug“ nutzt, desto höher wird die Trefferquote.
Wie stellt Siemens bei der Content-Entwicklung die Relevanz für Mitarbeiter oder Kunden sicher?
Ich denke, die generellen Kriterien für eine gute Geschichte haben sich nicht großartig verändert. Nur das Feedback ist in den Sozialen Medien viel unmittelbarer geworden. Ob ein Thema auf Interesse stößt, merkt man ja relativ schnell durch Kommentare, Likes oder Shares eines Beitrages. Deshalb ist es so wichtig, dass Analytics zu einem ganz wesentlichen und natürlichen Teil unserer Arbeit wird und wir die Erkenntnisse daraus schnell umsetzen. Relevanz stellt sich aber auch ein, wenn die Inhalte von denen kommen, die sich am besten auskennen oder die spezifische Sprache einer besonderen Community sprechen – daher kommt unser Ansatz, Siemens-Experten als Influencer zu gewinnen.
Was sind die wichtigsten KPIs für Siemens-Content?
Wir berücksichtigen eine ganze Reihe von KPIs, jeweils davon abhängig, was die Aktivitäten erreichen sollen. Wenn wir beispielsweise auf unserer Website Tickets für eine Messe anbieten, schauen wir auf die „visits from social“ anstatt auf „impressions on social“, da wir konkrete Dateneingaben durch die Besucher erzielen wollen. Die Auswirkungen auf unsere Thought Leadership-Position messen wir anhand einer Vielzahl von Kenngrößen. Dazu gehören neben Impressions, dem „Share of Buzz“ und „Topic Footprints“ auch das Engagement. Derzeit entwickeln wir einen KPI, mit dem wir all unsere Aktivitäten vergleichen können, den sogenannten „Engagement score“. Dabei handelt es sich um einen Algorithmus, der aus drei Faktoren besteht: Reichweite (z.B. durch Ad Impressions, Messebesuche, etc.), Interaktion (z.B. Klicks, Likes, etc.) und Business Impact (z.B. Dateneingaben, gebuchte Meetings, etc.). Diese Faktoren werden unterschiedlich hoch eingestuft, so dass das Ergebnis bereits deutlich einen tatsächlichen Wert erkennen lässt.
Wie wird der ROI für Content-Entwicklung bei Siemens gemessen?
Analytics sind das A und O. Wir versuchen, all unsere Aktivitäten kontinuierlich zu messen, zu analysieren und unsere Effizienz zu verbessern. Wenn wir anhand unserer KPIs merken, dass Aufwand und Ergebnis in keinem wirtschaftlichen Verhältnis stehen, bessern wir nach. Gleichzeitig kommt für uns noch ein anderes Prinzip zum Tragen: Wenn wir neue und bessere Herangehensweisen, Tools und Ergebnisse entwickeln wollen, müssen wir auch genug Raum zum Ausprobieren lassen. Klar, das beinhaltet manchmal Fehler. Solange wir diese Fehler aber schnell erkennen – eben auch durch Analytics –, aus ihnen lernen und uns weiter verbessern, ist das ein wichtiges Investment.
Zu eurem Newsroom: Wie ist er aufgebaut? Welche Qualifikationen haben die MitarbeiterInnen dort?
Unser Newsroom hat in den letzten drei Jahren einige Veränderungen erlebt, genauso wie das Kompetenzprofil der Kollegen dort. Auch hier gilt es, die Zusammenarbeit und die Prozesse regelmäßig anzuschauen wie auch die eingesetzten Tools – zum Beispiel für Analytics oder Projektmanagement. Und natürlich müssen wir auch immer wieder überprüfen, ob wir die richtigen Fähigkeiten im Team haben. Wir arbeiten aus dem Newsroom heraus mit allen Kollegen weltweit zusammen, quer durch alle Geschäftsfelder, und orchestrieren von hier aus langfristige Kampagnen wie tagesaktuelle Themen. Wir haben unsere Abteilungsstrukturen weitgehend aufgebrochen haben und können so viel schneller, agiler und besser abgestimmt zusammenarbeiten. Der Einzelne erhält aber auch – im Newsroom wie in allen anderen Teilen der Organisation – mehr Freiheiten und Entscheidungs-Spielraum. Das setzt voraus, dass man einander vertraut; das ist sowieso das Wichtigste in der schnellen digitalen Welt, in der man gar nicht mehr alles abstimmen kann. Es braucht dafür aber gleichzeitig eine Kultur, in der man auch um Hilfe bittet, und das Verständnis darum, dass jeder für seine eigene Weiterentwicklung mitverantwortlich ist. Das wiederum braucht das Verständnis, dass die Dinge sich stetig ändern und der Wandel nie abgeschlossen ist.
Was die Kompetenzen angeht, haben wir im Newsroom die eher traditionellen Fähigkeiten wie Schreiben, Projektmanagement, Stakeholder Relations, aber auch eher neue Kompetenzen wie eben Analytics, Content Marketing, Storytelling. Außerdem haben wir Kompetenzen, die vor Jahren an Agenturen ausgelagert wurden, in den Newsroom zurückgeholt, um schnell und präzise zu sein – zum Beispiel Videoproduktion oder Grafikdesign.
Auf der Siemens Corporate Website gibt es die Rubrik „Storys“, die sich stark mit der Digitalisierung beschäftigt. Werden dort nur non-fiktionale Storys erzählt oder auch eigene Geschichten kreiert?
Das sind alles echte Geschichten – in so einem großen Unternehmen gibt es genug davon! Und es sind auch nicht nur technik- oder produktbezogene Geschichten, sondern wir haben auch emotionale Geschichten. Ein schönes Beispiel dafür war neulich eine Geschichte aus den USA: Eine 17-jährige Schülerin aus Alabama hat an ihrer High-School mit Siemens-Software die Bein-Prothese eines Marine-Veteranen so optimiert, dass dieser nun leichter und ohne Schmerzen laufen kann. Die Siemens-Kollegen in den USA hörten davon und erzählten die Geschichte auf ihren Kanälen, woraufhin die Schülerin, Ashley Kimbel, sogar in die „Today Show“ eingeladen wurde.
Eine gute Story erzählt über Herausforderungen und Probleme, die der Protagonist lösen oder überwinden muss. Spricht Siemens in den Storys auch über eigene Probleme und Herausforderungen, die nicht direkt bewältigt wurden?
Ja, das machen wir auch – vor allem auch intern. Wir haben einen Hashtag #learnfromit etabliert, unter dem wir diese Geschichten erzählen. Das soll dabei helfen, aus Fehlern zu lernen, sich von Rückschlägen nicht demotivieren zu lassen und sich und anderen Fehler zu verzeihen.
Joe Kaeser (CEO von Siemens) ist bei Twitter sehr aktiv. Dort schreibt und teilt er nicht nur wirtschaftliche Themen, sondern nimmt auch Stellung zu gesellschaftlichen und politischen Themen. Wie unterstützt dein Team ihn?
Natürlich auch mit Content für seinen Account, aber er macht wirklich sehr viel selber. Da ist es dann vor allem unsere Aufgabe, die Reaktionen zu beobachten, zu moderieren und ggf. weiteren Kontext in die Diskussionen einzubringen.
Noch eine Frage zum Schluss: Wie geht man beim digitalen Wandel mit Widerständen aus eigenen Reihen um?
Den gibt es natürlich. Der stetige Wandel ist anstrengend, nicht jeder kann oder will damit umgehen, und der eine oder andere wünscht sich vielleicht auch die Zeit zurück, in der man etwas veröffentlichte, und dann war die Arbeit getan. Heute fängt sie dann aber erst so richtig an, indem man eben eine sofortige Rückmeldung zu Relevanz und Reichweite bekommt und dann ggf. reagieren muss.
Man muss für diesen Wandel werben. Ich würde sagen, dass etwa ein Drittel der Mitarbeiter von Anfang an begeistert ist, sich auf das Neue freut und voranläuft, der Großteil der Mitarbeiter ist aber erst einmal unentschlossen und wartet ab. Und dann gibt es einen Teil, der dagegen ist. Auf diese beiden Gruppen muss man sich besonders konzentrieren – man muss gut zuhören, um zu verstehen, was die Probleme sind. Oft geht es um Ängste oder um Unverständnis, was die Veränderungen für einen persönlich bedeuten. Oft braucht es nur die richtigen Trainings oder ein spannendes Projekt, manchmal individuelle Lösungen. Es geht aber nicht ohne Offenheit von beiden Seiten – z.B. das Angebot, jemandem mehr Zeit zu lassen, aber auch die Bereitschaft, Neues zu lernen und auszuprobieren.
Abgesehen davon habe ich die Erfahrung gemacht, dass Freude an der Arbeit, das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun, ein Arbeitsklima von Vertrauen, Respekt und Verantwortung eine gute Grundlage für einen Team-Spirit sind, der auch Unentschlossene mitnimmt und motiviert.
Vielen Dank, Clarissa!
Zur Person: Clarissa Haller ist seit Juli 2016 Leiterin der Unternehmenskommunikation bei Siemens. Zuvor arbeitete die frühere Journalistin in vergleichbaren Positionen u.a. für Bahlsen, Roche, ABB, und Credit Suisse. Sie ist verheiratet und hat zwei Söhne.
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